Wenn wir die Bibel lesen, machen wir oft den Fehler, dass wir die Bibel im falschen Kontext der Zeitgeschichte betrachten. Die jüdische Welt zur Zeit Jesu ist nicht die Welt des heutigen Judentums und sie ist auch nicht die Welt des Alten Testaments.

Wenn wir die jüdische Welt kennenlernen wollen, in der Jesus lebte, dann müssen wir die Brücke überqueren zwischen Moderne und Antike.

 

Missverständnis 1:  Die jüdische Welt von Jesus ist nicht die jüdische Welt des 21. Jahrhunderts

Das Judentum hat sich im Lauf der Geschichte stark verändert. Viele Bräuche und Kennzeichen, die heute als „typisch jüdisch“ gelten, waren zur Zeit Jesu noch völlig unbekannt. Es gab keine „Rabbiner“ und keine „Rabbinerschulen“. Jesus war deshalb auch kein „Rabbi“ im heutigen Sinn, auch wenn er von seinen Jüngern so genannt wurde. Die Kippa war noch nicht die jüdische Kopfbedeckung, Schläfenlocken wurden noch abrasiert, der Davidstern war noch kein jüdisches Symbol. Es gab noch einen Tempel, der das Zentrum des religiösen Lebens bildete und es gab noch keine  verbindlichen jüdischen Schriften, neben dem Alten Testament – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

 

Missverständnis 2:  Die jüdische Welt von Jesus ist nicht die Welt des Alten Testaments

Wir haben gesehen, dass die jüdische Welt von damals sich von der jüdischen Welt von heute unterschied. Wir müssen aber aufpassen, dass wir jetzt keinen zu grossen Zeitsprung machen, denn das führt uns zu einem weiteren Missverständnis. Viele Christen setzen die jüdische Welt von Jesus ganz einfach mit der Welt des Alten Testaments gleich. So als lägen auch hier nicht 1500 Jahre Abstand zwischen Moses und Jesus.

Da wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Ehebrecher im Judentum regelmässig gesteinigt wurden, nur weil das im Alten Testament so geschrieben steht. Immer wieder ist in Bibelauslegungen zu lesen, dass Aussätzige ausserhalb der Orte leben mussten und dass sie mit zerrissener Kleidung, verhülltem Bart und zerzaustem Haar durch die Gegend liefen. Denn es war ja so zur Zeit der Wüstenwanderung.
Man vermutet auch, dass Juden jederzeit bereit waren, alle fremden Völker mit militärischer Gewalt aus ihrem Land zu vertreiben, weil das zur Zeit der Landnahme unter Josua so geschah.

Aber selten fragt man sich, ob das auch wirklich stimmt. Als Christen leben wir heute auch nicht hundertprozentig nach dem, was in der Bibel steht. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir die Bibel auslegen und für unsere Zeit angepasst anders anwenden als vor 1000 oder 2000 Jahren, auch wenn die Bibel auch für uns verbindlich Gottes Wort ist. Auch in der jüdischen Welt Jesu suchte man nach Wegen, die alten Gesetze in der neuen Situation anzuwenden und an sie anzupassen. So lesen wir etwa in alten Quellen, dass die Todesstrafe zur Zeit des zweiten Tempels nur äusserst selten und in extremen Fällen angewandt wurde.

 

Von der Ehebrecherin
Christliche Ausleger erzählen z.B.  die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin gern so, als sei die Frau hier nur knapp dem Tode entronnen. Die Steine waren schon erhoben und die Pharisäer und Schriftgelehrten konnten es kaum erwarten, ihre Mordlust in die Tat umzusetzen. Erst als Jesus sein entscheidendes Wort sagte, liessen sie ihre Steine enttäuscht fallen, weil sie nun doch ihre Todesstrafe nicht ausführen konnten, wie sie es so gern getan hätten.

Ein kurzer Blick in den Bibeltext zeigt jedoch, dass der grösste Teil dieser Schilderung Fantasie ist und im Text gar nicht vorkommt: Hier wird nicht eine Steinigung verhindert, sondern eine Diskussion über Gesetzesauslegung geführt. Die Schriftgelehrten wollen von Jesus wissen, wie das Gesetz des Moses heute ausgelegt werden soll: Einerseits schreibt es die Todesstrafe vor, andererseits wussten alle Beteiligten, dass diese Vorschrift in der Praxis schon seit Generationen nicht mehr umgesetzt wurde. Was würde also der berühmte Lehrer Jesus zu dieser Frage sagen?

Von den Aussätzigen
Ein anderes Beispiel sind die Aussätzigen: Viele christliche Leser übertragen hier die strengen Vorschriften aus dem 3. Buch Mose einfach auf die Zeit Jesu und malen Horrorszenarien von jüdischen Leprakolonnien, die eher an Strafgefangenenlager erinnern. Tatsache ist jedoch, dass die biblische Bestimmungen auch zur Zeit Jesu schon von Auslegern und Gesetzeslehrern auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst wurden. So war es so, dass Aussätzige selbstverständlich am Gottesdienst der Synagoge teilnehmen konnten, dass sie wie andere auf dem Markt zum Einkaufen gingen und dass sie sogar heiraten und Familien gründen konnten (unter „Aussatz“ verstand die Bibel auch eine andere Krankheit, als wir heute darunter verstehen).

 

Fazit
Wir müssen uns also merken: die Jüdische Welt Jesu ist nicht dieselbe wie die Welt des Volkes Israel zur Zeit der Wüstenwanderung. Wir dürfen die jüdische Welt Jesu nicht einfach mit der Welt des Alten Testaments gleichsetzen. In der Forschung unterscheidet man beide Epochen sehr deutlich voneinander: Vom „Judentum“ spricht man eigentlich erst in der Zeit nach dem babylonischen Exil, also ab dem fünften Jahrhundert vor Christus.

Dass die jüdische Welt Jesu anders war als zur Zeit des Alten Testaments und auch anders als heute, finde ich persönlich sehr ermutigend!
Warum? Weil mir das zeigt, dass es ok ist, dass wir nach Wegen suchen müssen, die Bibel für die heutige Zeit angepasst auszulegen. Aber auch weil es mir zeigt, dass dies weder damals noch heute einfach war, da wir es ja nicht leichtfertig tun dürfen.
Jesus hat die Fragen der Pharisäer beantwortet. Und ich glaube Er ist bereit es auch uns zu erklären, wenn wir Ihn danach fragen.

 

 

Diverse Auszüge aus dem Buch: „Jesus der Jude und die Missverständnisse der Christen“ von Guido Baltes